Überblick über die Geschichte der Waldenser

Die lange, bewegte Geschichte der Waldenser hat bereits vor mehr als 800 Jahren angefangen. Damals wohnten die meisten Menschen in Europa auf dem Land. Ihr Leben wurde vom Adel und der Geistlichkeit bestimmt. Im 12. Jahrhundert gewannen die Städte rasch an Bedeutung. Sie entwickelten sich zu Anziehungspunkten für den Handel und das Handwerk und ihre Einwohnerzahl wuchs ständig. Dadurch konnte sich hier die neue gesellschaftliche Schicht des Bürgertums bilden. Aber auch viele Besitzlose zogen in die Städte. So entstand eine tiefe, bedrohliche Kluft zwischen Arm und Reich.

Viele Bürger sahen diese wirtschaftliche und soziale Entwicklung mit Sorge. Sie fragten sich, ob ihr Reichtum nicht ihrem Seelenheil schade. Vergeblich suchten sie Hilfe bei der Geistlichkeit. Die katholische Kirche war damals auf dem Höhepunkt ihrer weltlichen Macht. Der Papst konnte selbst dem Kaiser seinen Willen aufzwingen. In den Augen dieser Bürger konnte eine so mächtige Kirche ihre geistliche Aufgabe, sich um das Seelenheil zu kümmern, nicht erfüllen und daher fühlten sie sich berufen, selbst eine Antwort auf ihre Fragen zu finden.

Zu diesen besorgten Laien gehörte Valdes aus Lyon. Er ließ sich Teile der Bibel übersetzen und suchte darin selbständig eine Antwort auf seine Fragen. Als er las, wie Jesus die Apostel aufforderte, ihm nachzufolgen, ihren Besitz den Armen zu geben und das Evangelium zu verkünden, kam Valdes zu der Überzeugung, dass dies der richtige Weg sei, das Seelenheil zu erlangen. Er verteilte im Jahr 1173 seinen Besitz an die Armen, zog als Wanderprediger umher und lebte nur von Almosen. So entstand vor mehr als 800 Jahren die Bewegung der „Armen Christi“, wie die Gefolgsleute von Valdes sich selbst nannten. Als „Waldenser“ wurden sie damals nur von ihren Gegnern bezeichnet.

Bis zu seinem Tode (um 1206/07) versuchte Valdes den Bruch mit der katholischen Kirche zu vermeiden. Die „Armen Christi“ sollten durch ihre Wanderpredigt die Kirche von innen heraus erneuern und zum apostolischen Leben zurückführen. Die Kirche war jedoch nicht bereit, die Laienpredigt anzuerkennen. Bereits 1184 wurden die Waldenser vom Papst als Ketzer verurteilt, nicht wegen Irrlehre, sondern weil sie ohne kirchliche Erlaubnis weiter frei predigten. Dadurch wurden die Waldenser bald gezwungen, sich in den Untergrund zurückzuziehen.

Trotzdem breitete sich ihr Anhang im 13. Jahrhundert auch nördlich der Alpen aus. Das Rückgrat der Bewegung bildeten die Wanderprediger, die in Armut und unverheiratet lebten. Als Kaufleute getarnt zogen sie von Gemeinschaft zu Gemeinschaft. Sie beschränkten sich aber nicht mehr auf die Predigt, sondern übernahmen jetzt auch die Verwaltung der Sakramente, insbesondere des Abendmahls und der Beichte. Die Waldenserbewegung entwickelte sich zu einer Art Gegenkirche im Untergrund. Ihre Anhänger waren überwiegend Handwerker, Bauern und Frauen. Die Bibel war für die Waldenser die einzige Autorität. Die Bergpredigt Jesu sollte wörtlich befolgt werden. Daher lehnten die Waldenser Gewalt, auch von Seiten der Obrigkeit, ab. Insbesondere fühlten sie sich an das Gebot gebunden, keinen Eid zu schwören (vgl. Mt 5, 34).

Die Verfolgungen des 14. und 15. Jahrhunderts trafen die Waldenser hart. Sie wurden verfolgt, gefoltert, und oft als „Hexen“ verleumdet. Hunderte wurden verbrannt. So wurden die Waldenser in die Cottischen Alpen zwischen Grenoble und Turin zurückgedrängt. Hier lebten sie teilweise auf französischem, teilweise auf piemontesischem Boden. Diese letzten Reste der „Armen Christi“ schlossen sich 1532 in Chanforan der Reformation an und beschlossen, die Bibel neu aus den Grundsprachen in die französische Sprache übersetzen zu lassen. Die herumziehenden, unverheirateten Wanderprediger wurden allmählich durch ortsansässige, verheiratete Pfarrer ersetzt. 1561 gründeten die Waldenser eine eigene kleine Kirche, die sie „Waldenserkirche“ nannten. Sie bestand aus Gemeinden aus dem französischen und aus dem piemontesischen Teil der Cottischen Alpen. Diese Waldenserkirche hatte eindeutig einen calvinistischen Charakter, wie die reformierte Kirche in Genf und Frankreich.

Diese Entwicklung bedeutete einen tiefgreifenden Einschnitt in die Geschichte der Waldenser. Manche sprechen sogar vom „Tod“ der „Armen Christi“. Die Waldenser selbst verstanden ihren Anschluss an die Reformation nicht als einen Bruch mit der Vergangenheit, sondern als Fortsetzung der vorreformatorischen Waldenserbewegung, die schon lange vor der Reformation nach den Geboten der Bibel gelebt hatte.

Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die Waldenser immer mehr in die Enge getrieben. Die Waldenser aus dem französischen Teil der Cottischen Alpen mussten 1685, als König Ludwig XIV. die reformierte Religion verbot, fliehen. Zwar konnten sie 1690 in die benachbarten piemontesischen Waldensertäler zurückkehren, doch später, 1698, wurden sie auch von dort vertrieben. So kamen die französischen Waldenser nach Deutschland und gründeten zwischen 1699 und 1701 eigene Dörfer in verschiedenen hessischen Territorien, im Herzogtum Württemberg und in der Markgrafschaft Baden-Durlach. Im 19. Jahrhundert wurden die kleinen Waldensergemeinden in die Landeskirchen aufgenommen. Dadurch verloren die Waldenser in Deutschland ihren reformierten Charakter und wurden überwiegend lutherisch.

Auch die Waldenser aus dem piemontesischen Teil der Cottischen Alpen erlitten schwere Verfolgungen und wurden 1686-87 vertrieben. Sie kehrten jedoch 1689 unter Waffengewalt in ihre Täler zurück und wurden seit 1690 dank der diplomatischen Unterstützung des protestantischen Auslandes wieder im Piemont geduldet. Als sie 1848 endlich ihre bürgerlichen Freiheiten erlangten, breitete sich die Waldenserkirche über ganz Italien aus. Auch andere protestantische Kirchen fassten in dieser Zeit Fuß in Italien, insbesondere dank der Aktivitäten anglo-amerikanischer Missionsgesellschaften. Die Waldenser beanspruchten für sich, die einzige protestantische Kirche zu sein, die auf italienischem Boden entstanden war, und versuchten sich von einer kleinen französischsprachigen calvinistischen Kirche für die Waldenser in den piemontesischen Bergtälern zu einer größeren italienischsprachigen evangelischen Kirche für ganz Italien zu entwickeln. Dieses Bestreben hatte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg Erfolg. In Italien wurde 1967 der Evangelische Kirchenbund (FCEI) zwischen Baptisten, Lutheranern, Methodisten, Waldensern und Heilsarmee gegründet. 1979 erfolgte die Union der Waldenserkirche mit der methodistischen Kirche und 1990 wurde die Zusammenarbeit mit den Baptisten beschlossen.

Heute zählt die „Chiesa Evangelica Valdese“ in Italien rund 21.000 erwachsene Mitglieder. Die Erinnerung an Valdes ist noch immer lebendig. Die Waldenser betrachten es als ihre Aufgabe, die biblische Botschaft zu verkündigen, die Menschen zur Nachfolge Jesu Christi aufzurufen und sich sozial und politisch in Italien zu engagieren. Die Waldenserkirche ist Trägerin zahlreicher diakonischer Einrichtungen.

Dr. Albert de Lange, Karlsruhe